Prof. Dr. Aris Christidis zu Artikel 97

Prof. Dr. Aris Christidis

Der Art. 97 ist m.E. typisch für die Entstehung und den Anspruch des deutschen Grundgesetzes. Er beginnt mit dem Satz: „Die Richter sind unabhängig (…)“ – einer alten Forderung der Demokratie-Bewegung, die nach Einführung der ersten Verfassungen sicherstellen wollte, daß Monarchen keine Weisungen zur diskriminierenden Anwendung der von ihnen selbst erlassenen Gesetze erteilen dürften.

1949 war der Kaiser in seiner gesetzgeberischen Funktion schon lange vom Parlament abgelöst worden. Sein Nachfolger durfte zwar in einem Schloß wohnen; er durfte aber sonst nur Repräsentationsaufgaben wahrnehmen, Respektsbekundungen und Geld entgegen nehmen und austeilen. Die Regierungen sollten nicht mehr kaiserlich, sondern parlamentarisch sein – sonst aber weiterhin in Eigenregie ihre Geschäfte führen und dem neuen Souverän (dem Parlament) den Mob vom Leibe halten.

Schon der Absatz 2 desselben Artikels 97 beruhigt die alten Herrschaften: Die Strukturen des Kaiserreichs sollen nicht erlöschen; der Absatz sieht sogar vor, daß es in Deutschland weiterhin (Zitat) „auf Lebenszeit angestellte Richter“ gibt. Sie sollen als herrschaftstreue, beamtete Rechts-Kleriker nicht den Zeitgeist des unkundigen Volkes, sondern das Rechtsempfinden des Souveräns, des Bundestags, predigen. (Letzterer läßt sich übrigens auch nicht verhetzen, sonst gäbe es im StGB einen Parlamentsverhetzungsparagraphen.)

Das deutsche Grundgesetz spricht in seinem 1. Artikel (Abs. 3) über „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“, ohne dies explizit als „Gewaltenteilung“ zu bezeichnen – denn es soll keine Staatsgewalten geben, die ggf. als Korrektive füreinander fungieren könnten. Deswegen erwähnt Art. 13 GG die „parlamentarische Kontrolle“ der Bundesregierung durch den Bundestag. Gleichzeitig bekleidet ein beliebig großer Teil der Abgeordneten auch Positionen in der Regierung: Der gewählte Bundestag gibt sich eine Regierung, die sich dann mitkontrolliert. Eine Interessenskollision zwischen Bundestagsmandat und Regierungsamt ist so unwahrscheinlich wie zwischen der Vollversammlung und dem Vorstand eines Schützenvereins. Im Streitfall entscheiden Richter auf Lebenszeit – notfalls, indem sie Gesetze aufheben.

Richter – das sind Mitmenschen, die schon als Twens für so weise und unkorrumpierbar befunden wurden, daß sie für den Rest ihres Lebens die eine der drei Staatsgewalten ausüben dürfen. Das einzige Instrument zu ihrer (demokratischen?) Kontrolle ist das Tempo ihres Aufstiegs in der richterlichen Hierarchie. Der Schlüssel dazu liegt in der Hand der Exekutiven, die das Volk nicht wählen darf. Richter auf Lebenszeit stellen sicher, daß bis zu ihrer Pensionierung, über gut 30 Jahre, der Satz des früheren Marinerichters und späteren Ministerpräsidenten (BaWü) Hans Filbinger gilt: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Den Satz sprach er gut 30 Jahre nach Kriegsende aus.

Art. 97 GG ist quasi die beruhigende Botschaft an die Deutschen des Jahres 1949, im Jahre 1004 des ihnen versprochenen Reiches, daß für Kontinuität gesorgt wird. Bei der Lektüre dieses Artikels hat der demokratiebegeisterte Leser Art. 20 Abs. 2 mit dem Versprechen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. (…)“ weit – sehr weit hinter sich gelassen. Ab hier wird die „Verabschiedung“ des Grundgesetzes zweideutig.

In so zementierten, vom Feudalismus bis hin zum Postfaschismus gepflegten Strukturen konnte Fritz Bauer nur ein vereinzelter Betriebsunfall sein. Und manch einen quält die Frage, wie die von ihm gegründete Humanistische Union mit dieser Feststellung umgeht.